Montag, 4. Dezember 2017

Hypolimnion

Die See war ruhig auf dem englischen Kanal, auch wenn das Wetter ein wenig trübe war. Gelassen glitt die „Herald of Free Enterprise“ durch das Wasser. Er saß in einem der Fahrgasträume am Fenster und schaute hinaus auf die Wellen. Hätte er gewusst, dass gerade dieses Schiff nur wenige Tage später vor der belgi­schen Küste sinken würde, hätte er die Reise sicherlich weniger genossen. Aber er wusste es nicht und so schaute er vergnügt in die Wolken über dem Wasser und dachte an das, was er die nächsten Tage in London tun würde. Er hatte eine wichtige Verabredung mit einem Professor des Londoner University College, denn er stand jetzt kurz vor dem Abitur und wollte in London studieren. Zwar waren die wichtigsten Fragen ge­regelt, aber noch war nicht entgültig klar, ob man ihm die Zulassung für eine britische Universität gewähren würde.
Während er nachdachte, setzte sich ein älterer Herr zu ihm. Zunächst beachtete er ihn nicht weiter, aber irgendwann begann der ältere Herr eine Unterhaltung über das Wetter und das Meer.
„Ganz tief unten muss das Wasser doch unglaublich kalt sein“, sagte der Herr und schaute ihn fragend an.
„Nein“, antwortete er. „Ab einer gewissen Tiefe liegt die Wassertemperatur bei konstant plus vier Grad.“
So hatte er es im Biologieunterricht gelernt. Biologie sollte eines seiner Abiturfächer werden, deshalb wusste er recht gut Bescheid.
Der Herr schaute erstaunt und fragte: „Aber wenn zum Beispiel ein See zugefroren ist?“
„Man unterscheidet drei verschiedene Gewässerschichten“, setzte er an. „In der untersten, dem Hypolim­nion, beträgt die Temperatur konstant plus vier Grad. In der obersten Schicht, dem Epilimnion, variiert die Temperatur je nach Jahreszeit. Im Sommer wird es da richtig warm, während sich im Winter Eis bilden kann. Dazwischen liegt die Übergangsschicht des Metalimnions. In ihr erfolgt der Übergang von der Tem­peratur der obersten Schicht auf plus vier Grad in der untersten.“

„Und wie dick sind diese Schichten?“, fragte der Herr.
„Unterschiedlich“, gab er zurück. „Das hängt vor allem von der Tiefe des Gewässers und von der Sonnen­einstrahlung ab.“
„Sie kennen sich aber gut aus“, sagte der Herr. „Haben sie mit Gewässerforschung zu tun?“
Nun musste er grinsen. Sollte er dem älteren Herrn sagen, dass dies der Lehrstoff für seine Abiturprüfung wäre?
„Ich habe kürzlich zufällig etwas darüber gelesen“, sagte er.
Der Herr war beeindruckt. Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, dann setzte der ältere Herr seine Runde durch das Schiff fort.
Er schaute wieder hinaus auf das Meer. Den Herrn hatte er mit seinem Wissen sichtlich beeindruckt. Mit etwas Glück würde er das auch bei den Abiturprüfern schaffen. Dann stand seinem Studium in London nichts mehr im Wege.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen