Montag, 4. Dezember 2017

Der Fremde im Pelzmantel

Genervt legte er die Zeitung beiseite. Was für ein Rummel um diesen Bären, der von Italien kommend in den Graubündner Bergen aufgetaucht sein soll. Als wenn das so aufregend wäre. Es hatte schließlich früher überall in Europa Bären gegeben, bis sie irgendwann im Mittelalter ausgerottet wurden. Aber der Presserummel war schon lästig. Da sorgten sich die Viehbesitzer um ihre Tiere, Wanderer um ihre Sicherheit und die Einheimischen um das Geld der Touristen. Dabei war noch gar nicht sicher, ob wirklich ein Bär von Italien herübergewandert war. Die Spuren konnten auch von einem anderen Tier stammen, hatte irgendein Förster im Fernsehen gesagt. Immerhin hat bisher noch keiner verlangt den Bären zu erschießen, so, wie damals in Bayern.
Er packte seine Sachen zusammen und verstaute seine Brille sorgfältig im Etui. Dann setzte er seine Wanderung fort. Das Tal war an dieser Stelle ungewöhnlich breit. Bald war er sich nicht mehr sicher, ob er auf dem richtigen Weg war. Er wollte einen Blick auf die Wanderkarte werfen, aber er fand seine Brille nicht. Verdammt! Er hatte sie doch eingesteckt? Vielleicht lag sie noch an dem Platz, wo er vor fast einer halben Stunde Rast gemacht hatte. Es half nichts: Er musste den Weg wieder zurück gehen.
Er war noch nicht lange unterwegs, als ihm plötzlich Zweifel kamen. War das überhaupt der richtige Weg? Er konnte zwar auch ohne Brille noch ganz gut sehen, aber offenbar gab es ein paar Dinge, die ihm ohne Sehhilfe entgingen. Während er noch an der Wegkreuzung stand und überlegte, näherte sich ihm ein seltsamer Wanderer. Ein Glück! Da war jemand, den er fragen konnte. Der Wanderer schien trotz der großen Hitze einen Pelzmantel zu tragen. Naja, vielleicht wollte er über den Gletscher gehen.
„Junger Mann, können sie mir vielleicht helfen? Ich glaube, ich habe mich verirrt“, sagte er.
Aber der Fremde brummte nur irgendetwas unverständliches und beachtete ihn gar nicht. Stattdessen bückte er sich und ging auf allen Vieren weiter. Hatte er eventuell seine Kontaktlinsen verloren? Er würde dem seltsamen Wanderer ja gerne suchen helfen, aber ohne seine Brille war er doch wesentlich hilfloser, als er gedacht hätte. Der Fremde ließ sich nicht beirren. Dann richtet er sich direkt vor ihm auf. Offenbar hatte er seine Kontaktlinsen gefunden.
„Also wirklich, junger Mann“, setzte er an. „Ihr Verhalten ist absolut ungebührlich. Ich habe sie ganz höflich um Hilfe gebeten und sie halten es nichtmal für nötig mir eine verständliche Antwort zu geben. Stattdessen brummeln sie irgendwas in ihren Bart. Sie sollten sich wirklich mal rasieren.“
Aber wieder brummte der Fremde nur etwas unverständliches. Dann drehte er sich um und verschwand blitzschnell im Unterholz.
Kopfschüttelnd ging er weiter. Hoffentlich war das der richtige Weg. Bald gelangte er wieder an seinen alten Rastplatz und dort lag doch tatsächlich das Brillenetui auf dem Stein, wo sein Rucksack gestanden hatte. Er hatte das Etui nicht in die Rucksacktasche hineingesteckt, sondern daneben, sodass es auf dem Stein liegen geblieben war. Und dort lag ja auch die Zeitung, die er eben noch gelesen hatte. Ein wenig erschöpft ließ er sich auf seinem alten Platz nieder und setzte die Brille auf. Sein Blick fiel auf den Zeitungsartikel über den Bären. Was für ein Blödsinn! Wahrscheinlich war das wieder mal eine Presseente. Vermutlich gab es gar keinen Bären in Graubünden. Nur irgend so einen unhöflichen Typen im Pelzmantel der unverständliches Zeug brummelte.

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