Montag, 4. Dezember 2017

Hypolimnion

Die See war ruhig auf dem englischen Kanal, auch wenn das Wetter ein wenig trübe war. Gelassen glitt die „Herald of Free Enterprise“ durch das Wasser. Er saß in einem der Fahrgasträume am Fenster und schaute hinaus auf die Wellen. Hätte er gewusst, dass gerade dieses Schiff nur wenige Tage später vor der belgi­schen Küste sinken würde, hätte er die Reise sicherlich weniger genossen. Aber er wusste es nicht und so schaute er vergnügt in die Wolken über dem Wasser und dachte an das, was er die nächsten Tage in London tun würde. Er hatte eine wichtige Verabredung mit einem Professor des Londoner University College, denn er stand jetzt kurz vor dem Abitur und wollte in London studieren. Zwar waren die wichtigsten Fragen ge­regelt, aber noch war nicht entgültig klar, ob man ihm die Zulassung für eine britische Universität gewähren würde.
Während er nachdachte, setzte sich ein älterer Herr zu ihm. Zunächst beachtete er ihn nicht weiter, aber irgendwann begann der ältere Herr eine Unterhaltung über das Wetter und das Meer.
„Ganz tief unten muss das Wasser doch unglaublich kalt sein“, sagte der Herr und schaute ihn fragend an.
„Nein“, antwortete er. „Ab einer gewissen Tiefe liegt die Wassertemperatur bei konstant plus vier Grad.“
So hatte er es im Biologieunterricht gelernt. Biologie sollte eines seiner Abiturfächer werden, deshalb wusste er recht gut Bescheid.
Der Herr schaute erstaunt und fragte: „Aber wenn zum Beispiel ein See zugefroren ist?“
„Man unterscheidet drei verschiedene Gewässerschichten“, setzte er an. „In der untersten, dem Hypolim­nion, beträgt die Temperatur konstant plus vier Grad. In der obersten Schicht, dem Epilimnion, variiert die Temperatur je nach Jahreszeit. Im Sommer wird es da richtig warm, während sich im Winter Eis bilden kann. Dazwischen liegt die Übergangsschicht des Metalimnions. In ihr erfolgt der Übergang von der Tem­peratur der obersten Schicht auf plus vier Grad in der untersten.“

„Und wie dick sind diese Schichten?“, fragte der Herr.
„Unterschiedlich“, gab er zurück. „Das hängt vor allem von der Tiefe des Gewässers und von der Sonnen­einstrahlung ab.“
„Sie kennen sich aber gut aus“, sagte der Herr. „Haben sie mit Gewässerforschung zu tun?“
Nun musste er grinsen. Sollte er dem älteren Herrn sagen, dass dies der Lehrstoff für seine Abiturprüfung wäre?
„Ich habe kürzlich zufällig etwas darüber gelesen“, sagte er.
Der Herr war beeindruckt. Sie plauderten noch eine Weile über Belanglosigkeiten, dann setzte der ältere Herr seine Runde durch das Schiff fort.
Er schaute wieder hinaus auf das Meer. Den Herrn hatte er mit seinem Wissen sichtlich beeindruckt. Mit etwas Glück würde er das auch bei den Abiturprüfern schaffen. Dann stand seinem Studium in London nichts mehr im Wege.


Elche im Tal

Es war Winter im Allgäu. Sie saßen oberhalb von Oberstdorf, nicht weit von der Skisprungschanze entfernt, auf einer Bank unter einem großen Tannenbaum, umgeben von nächtlicher Dunkelheit. Schräg hinter ihnen leuchteten die Lichter des Ortes hinauf und spiegelten sich in den Millionen von Schneekristallen. Die Kälte machte ihnen nur wenig zu schaffen. Sie hatten einen kurzen, aber steilen Aufstieg hinter sich und wollten auf dieser Bank nur ein wenig verschnaufen. Still saßen sie in der Dunkelheit und betrachteten die ver­schneiten Berge vor sich.
Aus kurzer Distanz näherte sich eine Gruppe Spaziergänger auf dem windungsreichen Waldweg. Bald konnten sie schon ihr Gespräch mitanhören.
„... und plötzlich stand der Elch genau vor der Veranda unseres Ferienhauses“, hörten sie einen Mann erzählen. „Elche sind gar nicht so scheue Tiere, wie immer behauptet wird. Im Gegenteil: Sie sind sehr neugierig und beobachten gerne die Menschen.“
„In harten Wintern, wenn sie im Wald nicht genug zu fressen finden, gehen sie sogar in die Dörfer hinein“, ergänzte eine Frau, während die anderen aus der kleinen Gruppe gespannt zuhörten. „Sie gehen dann in die Gärten der Bewohner und suchen dort nach fressbarem.“
„Das ist ja unglaublich. Stellt euch mal vor, ihr geht in den Garten und trefft dort einen Elch, der euer Blumenbeet plündert“, sagte eine andere Frau lachend.
„Ja, aber Elche sind nicht gefährlich. Sie greifen Menschen nicht an.“
„Trotzdem ist es nicht angenehm, wenn plötzlich so ein riesiger Elch vor einem steht“, sagte ein Mann.
„Schon, aber es sind eigentlich sehr freundliche Tiere.“
„Guten Abend!“, tönte es nun laut und vernehmlich aus Richtung der Bank.
Er hatte es sich einfach nicht verkneifen können. Die Gruppe erschrak und alle blickten sich suchend um. Eine Frau stieß einen kurzen Schrei aus. In der Dunkelheit hatte sie die Leute auf der Bank nicht bemerkt.

Sie brauchten einige Minuten, um sich wieder zu beruhigen und sich klar zu machen, dass der Gruß von einem Menschen kam. Immer noch ein wenig verwirrt setzten sie ihren Weg fort. Den Wanderern auf der Bank wurde es jetzt langsam doch ein wenig zu kalt und so machten sie sich wieder auf den Weg. Unter ihnen leuchteten die Lichter von Oberstdorf. Über ihnen standen die Bergriesen schweigend in der Dunkel­heit. Der Weg führte vorbei an einer Futterstelle für Rehwild. Man sah sogar einige Tierschatten bei dem Fütterhäuschen. Elche waren aber nicht dabei.

»Ein Gespräch für Sie«

Die Studenten strömten in den Seminarraum. Gleich würde die Vorlesung beginnen. Der Raum war für etwa dreißig Leute gedacht, aber es hatten sich mindestens doppelt so viele eingefunden. Der Dozent gehörte näm­lich zu den be­liebtesten in der Fakultät. Für einen Professor war er noch relativ jung, außerdem sah er gut aus. Jeder hätte ihn gerne als Prüfer und so manche Studentin träumte sicherlich von mehr. Dabei war er glücklich verheiratet und würde sich niemals eine Blöße geben. Manche weiblichen Veranstaltungsbesucher schien das jedoch erst recht anzuspornen.
Der Raum war erfüllt vom Gemurmel der zahlreichen Gespräche. Dann kam er. Er bahnte sich seinen Weg durch die Masse und ging nach vorne zum Dozententisch. Innerhalb weniger Sekunden starben die Ge­sprä­che ab und der Vortrag begann.
Nach etwa zehn Minuten geschah etwas unerwartetes: Ein Handy klingelte. Das war im Zeitalter der mo­bi­len Kommunikation zwar nichts ungewöhnliches. Neu war jedoch, dass der Student, dessen Handy sich so plötzlich zu Wort gemeldet hatte, das Gespräch ungerührt annahm. Wenn sonst irgendwo jemand vergessen hatte sein Handy auszuschalten, dann holte er oder sie das in solchen Momenten verschämt nach. Dieser Student, der überdies noch vorne in der ersten Reihe saß, begann jedoch ungerührt zu telefonieren. Der Professor unterbrach seine Vorlesung und alle Augen richteten sich auf den Telefonierer.
„Ja, kein Problem. Aha, ja. Geht klar. Was?“, hörte man ihn sagen.
Der Professor wurde ungehalten. Man konnte deutlich sehen, wie sein Gesicht rot wurde und seine Adern langsam anschwollen. Wer war dieser Schnösel, der hier so ungerührt mitten in seiner Vorlesung tele­fonierte?
„Junger Mann...“, setzt er an, aber dieser Schnösel bedeutete ihm mit einer Handbewegung ruhig zu sein.
Dem Professor blieb die Spucke weg. Der wagte es doch tatsächlich...
Der Schnösel sprach ungerührt weiter: „Ja, ist gut. Mach ich. Wer? Ja, der ist da. Einen Moment!“ Dann wandte er sich an den Professor: „Ihre Frau möchte sie kurz sprechen“, und reichte ihm sein Handy hinüber.
Der Professor schaute ein wenig verdattert. Dann nahm er das Gerät entgegen. Es war tatsächlich seine Frau, wie die Anwesenden aus dem was er sagte, entnehmen konnten. Er sollte auf dem Heimweg noch ein paar Besorgungen machen. So schnell er konnte beendete der Professor das Gespräch und reichte das Handy zurück an seinen Besitzer.
„Bitte schalten sie das Gerät aus“, ermahnte er ihn.
„Und wenn ihre Frau noch mal anruft?“, sagte der Schnösel grinsend.

„Dann kann sie ja in ihre Mailbox sprechen“, gab der Professor zurück und setzte sein Vorlesung fort.

Badewanne für Zwei

Gerade war es hell geworden und ein schwaches Sonnenlicht hatte die nächtliche Dunkelheit abgelöst. Be­hut­sam schlich er über den Flur des Landgasthofes in das Badezimmer. Er wollte schnell noch ein mor­gend­liches Bad nehmen, bevor der Ansturm auf das einzige Badezimmer auf der Etage begann. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich ab und ließ das warme Wasser in die Wanne laufen. Seiner Kleidung hatte er sich schnell entledigt und schon tauchte er in das warme Wasser hinein. Das Vergnügen wurde jedoch schon bald von einem Klopfen an der Tür gestört.
„Hallo, wie lange dauert es noch?“, tönte es von draußen. Es war die Stimme einer Frau.
„Ich habe gerade erst angefangen“, antwortete er.
„Wie lange brauchen sie denn?“, kam es von draußen.
„Keine Ahnung. So lange, wie es halt dauert“, gab er zurück.
„Ich muss um sieben Uhr zur Arbeit. Kann ich in einer viertel Stunde rein?“
„Ich habe keine Uhr hier drinnen.“
„Wie soll ich denn sonst pünktlich zur Arbeit kommen?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Sie könnten ruhig etwas kooperativer sein.“
„Nun, meinetwegen können sie zu mir in die Wanne kommen. Aber schieben sie vorher ein Foto von sich unter der Tür durch!“, rief er frech.
Draußen wurde es nun still. Offenbar hatte die Dame aufgegeben.
Nachdem er sein Bad beendet hatte, zog er sich an und schaute dabei eher zufällig aus dem Fenster auf den Parkplatz des Gasthofes. Er sah, wie eine durchaus attraktive Frau von etwa dreißig in ein Auto stieg und davonfuhr. Er kannte die übrigen Gäste des Landgasthofes und daher wusste er, dass es die Frau sein musste, die gerade ins Badezimmer hinein wollte. ‚Schade’, dachte er. ‚Mit der hätte ich gerne gebadet.’

Weg nach Gletsch

Die Sonne brannte heiß auf das obere Rhônetal. Die Quelle des Rhône oder Rotten, wie die Einheimischen Walser sagten, war nicht weit. Er stieg den Hang hinauf in Richtung des Dorfes Gletsch, das sich direkt an den Ausläufern des bekannten Rhônegletschers befand, auch wenn sich die Gletscherzunge im Laufe der letzten Jahrzehnte sehr weit in ein Seitental zurückgezogen hat.
Sein Weg führte ihn nun über eine Almwiese. Wenige Meter vor sich sah er ein paar Pferde. Welch ein seltener Anblick! Normalerweise trifft man hier eher Kühe an. Es handelte sich um drei Stuten und drei Fohlen. Langsam näherte er sich der kleinen Gruppe. Eine der Stuten war gerade dabei ihr Fohlen zu säugen und ihr Blick signalisierte ihm, dass er unerwünscht war und dem Tier besser nicht zu nahe kommen sollte. Rücksichtsvoll machte er einen kleinen Bogen um die Gruppe, die direkt auf dem Weg stand und ihn streng musterte. Als er beinahe an ihnen vorbei war, betrachtete er den Bergpfad vor sich. War das der Weg nach Gletsch? Suchend schaute er sich um. Nirgendwo ein Schild zu sehen und auch sonst kein Hinweis. Er suchte nach der bekannten weiß-roten Markierung, konnte aber nichts entdecken. Er drehte sich um und schaute die Pferde an. Die Stute, welche ihm am nächsten stand, erwiderte seinen Blick.
„Ist das hier der richtige Weg nach Gletsch?“, fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.
Das Pferd nickte mit dem Kopf.
„Danke schön“, sagte er und setzte seine Wanderung fort.
Einige Meter weiter ging der schmale Bergpfad in eine regelrechte Kletterstrecke über. War das wirklich der richtige Weg oder hatte das Pferd unrecht? Er entschloss sich weiterzugehen, oder genauer gesagt, zu klettern, denn nun ging es nur noch auf allen vieren weiter. Aber schon hinter der nächsten Biegung konnte er die Hausdächer von Gletsch und dahinter den Rhônegletscher sehen. Das Pferd hatte ihm den richtigen Weg gewiesen.

Fernausleihe

Vorsichtig klopfte er an die geschlossene Milchglasscheibe des Schalters für die Fernausleihe. Er wollte ein Buch aus einer anderen Universitätsbibliothek ausleihen und benötigte dafür eine sogenannte Fernausleihnummer. Diese war gebührenpflichtig und musste an diesem Schalter käuflich erworben werden. Es dauerte eine Weile, bis die Scheibe schließlich zur Seite glitt und das Gesicht einer Frau erschien. Mit glasigen Augen und einem seligen Lächeln schaute sie ihn an.
"Ja?"
"Ich hätte gerne eine Fernausleihnummer", sagte er.
"Ja, gerne", antwortete die Frau, immer noch mit einem seligen Lächeln auf den Lippen.
Dann wog sie herum und schwebte hinüber zum Büroschrank. Sie drehte ihm kurz den Rücken zu und schwebte kurz darauf zurück an den Schalter.
"Hier, bitte sehr", sagte sie. "eins fünfzig."
Leicht irritiert legte er das Geld auf den Tresen und bedankte sich.
"Bitte sehr", antwortete die Frau. "Und einen schönen Tag noch."
"Danke gleichfalls, sagte er. Dann schloss sich die Milchglasscheibe wieder.
Nachdenklich drehte er sich herum und verlies den Gang in Richtung Ausleihschalter. "Was immer diese Frau eingenommen hat", dachte er. Hoffentlich hat sie ein ärztliches Rezept dafür.

Das Fohlen-Ei

Die Leute aus Furna gelten als ziemlich einfältig, wie man mir sagte. Das mag an der abgelegenen Lage des Dorfes in einem Seitental hoch über dem Prättigau-Talboden liegen oder auch andere Ursachen haben. Die folgende Geschichte wurde mir vor einigen Jahren von Einheimischen aus dem Prättigau erzählt.
Eines Tages, an einem heißen Sommertag, verließ ein Furner sein abgelegenes Dorf und stiegt hinunter in den Prättigau. Dort traf er einen Bauern der gerade mit seinem Pferd ein Feld pflügte. Der Furner wunderte sich: So ein merkwürdiges Tier, das dazu auch noch bei der Feldarbeit hilft, hatte er noch nie gesehen. Gerne hätte er auch ein so nützliches Geschöpf. Also fragte er den Bauern wie er denn an so ein seltenes Tier kommen könne. 
„Das ist ganz einfach“, antwortete der Bauer. „Geh’ in die Apotheke im Dorf und verlange Fohlensamen.“
Frohgemut begab sich der Furner ins Dorf. In der Apotheke angekommen verlangte er also nach Fohlensamen, wie der Bauer es gesagt hatte. Der Apotheker musterte ihn nachdenklich und eingehend und gab ihm dann einen Kürbis. Dies sei Fohlensamen, erklärte er ihm, oder vielmehr ein Fohlen-Ei. Er müsse es nur ausbrüten, dann habe er ein Pferd.
Freudig machte sich der Furner mit dem Fohlen-Ei auf den Heimweg. Während er den Furner Hang hinaufstieg, überlegte er, dass die Dorfbewohner ihn sicher erfreut willkommen heißen, wenn er ein Fohlen-Ei mitbringt. Noch größer wäre aber der Jubel, wenn er gleich ein Pferd mitbrächte. Was hatte der Apotheker gesagt? Er brauche das Ei nur auszubrüten. Das könne er doch hier und jetzt tun. Schließlich war es ein warmer Sommertag, da würde es sicher nicht lange dauern, bis das Fohlen schlüpfte. Also setzte er sich auf den Kürbis und begann zu brüten. Dadurch wurde er langsam schläfrig. Irgendwann übermannte ihn dann die Müdigkeit und er rutschte von dem Kürbis herunter. Der Kürbis kullerte den Hang hinab und blieb in einem Gebüsch hängen. Ein aufgeschreckter Hase sprang aus dem Gebüsch und lief über die Wiese.
Der Furner sah den Hasen und rief: „Warte, Fülli, warte, ich bin doch Dein Vater!“

Der Fremde im Pelzmantel

Genervt legte er die Zeitung beiseite. Was für ein Rummel um diesen Bären, der von Italien kommend in den Graubündner Bergen aufgetaucht sein soll. Als wenn das so aufregend wäre. Es hatte schließlich früher überall in Europa Bären gegeben, bis sie irgendwann im Mittelalter ausgerottet wurden. Aber der Presserummel war schon lästig. Da sorgten sich die Viehbesitzer um ihre Tiere, Wanderer um ihre Sicherheit und die Einheimischen um das Geld der Touristen. Dabei war noch gar nicht sicher, ob wirklich ein Bär von Italien herübergewandert war. Die Spuren konnten auch von einem anderen Tier stammen, hatte irgendein Förster im Fernsehen gesagt. Immerhin hat bisher noch keiner verlangt den Bären zu erschießen, so, wie damals in Bayern.
Er packte seine Sachen zusammen und verstaute seine Brille sorgfältig im Etui. Dann setzte er seine Wanderung fort. Das Tal war an dieser Stelle ungewöhnlich breit. Bald war er sich nicht mehr sicher, ob er auf dem richtigen Weg war. Er wollte einen Blick auf die Wanderkarte werfen, aber er fand seine Brille nicht. Verdammt! Er hatte sie doch eingesteckt? Vielleicht lag sie noch an dem Platz, wo er vor fast einer halben Stunde Rast gemacht hatte. Es half nichts: Er musste den Weg wieder zurück gehen.
Er war noch nicht lange unterwegs, als ihm plötzlich Zweifel kamen. War das überhaupt der richtige Weg? Er konnte zwar auch ohne Brille noch ganz gut sehen, aber offenbar gab es ein paar Dinge, die ihm ohne Sehhilfe entgingen. Während er noch an der Wegkreuzung stand und überlegte, näherte sich ihm ein seltsamer Wanderer. Ein Glück! Da war jemand, den er fragen konnte. Der Wanderer schien trotz der großen Hitze einen Pelzmantel zu tragen. Naja, vielleicht wollte er über den Gletscher gehen.
„Junger Mann, können sie mir vielleicht helfen? Ich glaube, ich habe mich verirrt“, sagte er.
Aber der Fremde brummte nur irgendetwas unverständliches und beachtete ihn gar nicht. Stattdessen bückte er sich und ging auf allen Vieren weiter. Hatte er eventuell seine Kontaktlinsen verloren? Er würde dem seltsamen Wanderer ja gerne suchen helfen, aber ohne seine Brille war er doch wesentlich hilfloser, als er gedacht hätte. Der Fremde ließ sich nicht beirren. Dann richtet er sich direkt vor ihm auf. Offenbar hatte er seine Kontaktlinsen gefunden.
„Also wirklich, junger Mann“, setzte er an. „Ihr Verhalten ist absolut ungebührlich. Ich habe sie ganz höflich um Hilfe gebeten und sie halten es nichtmal für nötig mir eine verständliche Antwort zu geben. Stattdessen brummeln sie irgendwas in ihren Bart. Sie sollten sich wirklich mal rasieren.“
Aber wieder brummte der Fremde nur etwas unverständliches. Dann drehte er sich um und verschwand blitzschnell im Unterholz.
Kopfschüttelnd ging er weiter. Hoffentlich war das der richtige Weg. Bald gelangte er wieder an seinen alten Rastplatz und dort lag doch tatsächlich das Brillenetui auf dem Stein, wo sein Rucksack gestanden hatte. Er hatte das Etui nicht in die Rucksacktasche hineingesteckt, sondern daneben, sodass es auf dem Stein liegen geblieben war. Und dort lag ja auch die Zeitung, die er eben noch gelesen hatte. Ein wenig erschöpft ließ er sich auf seinem alten Platz nieder und setzte die Brille auf. Sein Blick fiel auf den Zeitungsartikel über den Bären. Was für ein Blödsinn! Wahrscheinlich war das wieder mal eine Presseente. Vermutlich gab es gar keinen Bären in Graubünden. Nur irgend so einen unhöflichen Typen im Pelzmantel der unverständliches Zeug brummelte.

Der Ziegenhirte vom Unterengadin

Ein wenig unsicher stolperte er aus der Station der Bergbahn. Welchen Weg sollte er einschlagen? Er entschloss sich auf gleicher Höhe am Hang entlang bis zum nächsten Hügel zu gehen und dort die Wanderung mit einer Pause zu beginnen. Trotz der sommerlichen Hitze trug er Bergschuhe, einen Rucksack, einen Wanderstock und irgendeinen Seppelhut mit Gamsbart, von dem er nicht mehr wusste, wo er diesen überhaupt gefunden hatte. Zwar fand er, dass er damit etwas albern aussah, aber ohne Hut konnte man in dieser Höhe bei so starker Sonneneinstrahlung nicht unterwegs sein, ohne einen heftigen Sonnenbrand zu riskieren. Und irgendwie passte der Hut in diese Gegend.
Schnell hatte er den Hügel erreicht. Vor ihm lag das Unterengadin unter der heißen Sommersonne. Er hatte sich bis jetzt kaum angestrengt, aber selbst in dieser Höhe spürte er die Hitze. Leider gab es so hoch oben über der Baumgrenze kaum Schatten. Also setzte er sich auf einen Stein mitten in einer Almwiese, auf der eine Ziegenherde graste. Neugierig umringten ihn die Ziegen und beschnüffelten ihn von allen Seiten. Aber schon nach wenigen Minuten wendeten sie sich wieder dem Alpengras zu. Der Hirte war nirgends zu sehen, aber sein Hund wachte eifrig über die Ziegen. Sobald sich ein Tier zu weit von den anderen entfernte, lief er hinüber und trieb es zur Herde zurück. Als er schließlich sah, dass alle Tiere beieinander waren, setzte sich der Hund wenige Meter von dem Wanderer entfernt hin, jedoch ohne die Herde aus den Augen zu lassen.
Der Wanderer kramte eine Trinkflasche aus seinem Rucksack und nahm einen tiefen Schluck. Zufrieden schaute er über die grünen Weiden hinunter ins Tal. Er hatte jedoch noch nicht lange dort gesessen, als sich aus einer Mulde eine kleine Gruppe Spaziergänger näherte. Sie trugen normale Straßenkleidung. Niemand hatte einen Rucksack oder einen Wanderstock bei sich. Offenbar waren sie auf dem Weg zurück zur Seilbahnstation. Zwei ältere Damen in mittellangen Röcken, Turnschuhen und Baseballkappen lösten sich aus der Gruppe und kamen fast genau auf ihn zu. Zunächst beachtete er sie nicht weiter, aber bald schon hörte er ihre Stimmen. Es waren amerikanische Touristinnen.
„Look dear, isn’t that beautiful!“, hörte er eine der Frauen ausrufen, begleitet von andauerndem Klicken zweier Fotoapparate. „A genuine swiss goatherd, how marvellous!“
Und wieder klickten die Fotoapparate. Irritiert drehte er sich um. Was zum Teufel wollten diese Frauen von ihm? Er hatte jedoch keine Gelegenheit sie zu fragen, denn so schnell wie sie gekommen waren, so schnell verschwanden sie hinter der nächsten Senke. Verwirrt blieb er zurück. Er schaute auf den Hund, der nur wenige Meter von ihm entfernt lag. Dann blickte er auf die Ziegen, die sich halbkreisförmig um ihn gruppiert hatten. Diese seltsamen Frauen glaubten doch tatsächlich, dass er der Ziegenhirte sei! Gerne hätte er sie über den wahren Sachverhalt aufgeklärt, dass er nur ein Wanderer war, der zufällig hier eine Pause eingelegt hatte. Dass er nichteinmal Schweizer war, sondern aus dem Rheinland stammte. Aber es war zu spät. Die Frauen waren schon außer Sichtweite. Nachdenklich packte er seine Sachen zusammen, legte den Rucksack wieder an und warf einen letzten Blick auf die Ziegenherde und den Hund. Dann verließ er diesen Ort in der sicheren Gewissheit, dass es irgendwo in Amerika ein Fotoalbum geben würde, in dem ein Bild von ihm als Ziegenhirte zu sehen war.

Sonntag, 3. Dezember 2017

Speeddating

Das Signal ertönte. Nun war es Zeit die Plätze einzunehmen. Sieben Frauen, sieben Männer, sieben Minu­ten; das war das Motto der Veranstaltung in einem Szenelokal in der Kölner Südstadt. Speeddating nannte sich das Ganze. Man hatte sieben Minuten Zeit seinen Gegenüber kennen zu lernen, dann wurde gewechselt. Und wieder hatte man sieben Minuten zum Plaudern. So ging es weiter, bis man alle Teilnehmer des an­de­ren Geschlechts durch hatte. Nach der Veranstaltung trug man in ein Formular ein, wen man wiedersehen wollte.
Er setzte sich auf den ersten Platz und begrüßte die Dame. Sie hieß Andrea, sah gut aus und hatte schon vor der Veranstaltung mit einem der anderen Herren Kontakt aufgenommen. Das Gespräch lief recht gut, aber er merkte, dass sie keinen Draht zueinander fanden. Er war daher nicht gerade traurig, als die Glocke die Herren zu einem Platzwechsel aufrief. 

Die folgende hatte er schon vor Beginn der Veranstaltung mit ihrer erwachsenen Tochter im Lokal sitzen sehen. Inständig hatte er gehofft, dass es die Tochter wäre, die am Speeddating teilnehmen würde. Aber es war die Mutter, die an den Mann gebracht werden sollte. Sie stammte aus Sachsen, wie man deutlich an ihrer Aussprache hörte, und nun saß sie ihm gegenüber und berichtete mit tränenerstickter Stimme von ihrer missglückten Ehe, und dass ihr neuer Lebenspartner „ährlisch, dreu un zuwerlässisch“ sein sollte. Toll! Er hatte auch nicht vermutet, dass sie jemanden sucht, der sie bescheißt. Wieder war er froh, als die Glocke ertönte.
Mit seiner nächsten Gesprächspartnerin fand er fast sofort den richtigen Dreh. Sie hieß Manuela und war von Beruf Psychologin. Allerdings war sie noch nicht ganz fertig mit ihrem Studium. Sie schrieb noch an einer Doktorarbeit.
„Das ist aber interessant“, sagte er höflich. „Über welches Thema schreibst Du denn?“
„Über zeugungsunfähige Männer“, erwiderte sie.
„Ich fürchte, da kann ich dir nicht helfen“, sagte er.
Zum Glück waren auch hier die sieben Minuten bald um.
Die nächste Dame war etwa Ende fünfzig und bereits Großmutter. An ihrer Kleidung konnte er sehen, dass sie an einen Lebensstil gewöhnt war, bei dem man nicht auf den Pfennig achten musste. Und genau so war es auch. Sie hatte vor ihrer Scheidung gar nicht gewusst, wie teuer es ist eine eigene Wohnung zu haben, bekannte sie freimütig.
Sieben Minuten später saß er Anke gegenüber. Sie war Anfang dreißig und Krankenschwester von Beruf.
Ob er Kinder möge, fragte sie ihn. Ups, war das etwa schon wieder eine ledige Mutti? „Nun ja“, sagte er. „Wenn es die Eigenen sind“, und schaute ihr tief in die Augen. Diesmal war sie wohl diejenige, die froh war, als die sieben Minuten um waren.
Dann kam Sandra an die Reihe, eine gutaussehende, dunkelhaarige Frau, die ihn bisher jedoch keines Blickes gewürdigt hatte. Wie er im Gespräch erfuhr, wohnte sie praktisch nur ein paar Kilometer von ihm entfernt und ging regelmäßig joggen. Da er die Gegend kannte, wusste er, dass sie dies vermutlich am nahen See tun würde. Er beschloss ihr einen Schrecken einzujagen.
„Jetzt weiß ich, warum du mir die ganze Zeit so bekannt vorkommst“, sagte er. „Ich habe dich schon mehr­mals am See joggen sehen. Ich gehe dort nämlich ab und zu spazieren.“
Er konnte beobachten, wie es ihr unbehaglich wurde und sie nervös auf dem Stuhl umherrutschte. Als die sieben Minuten vorbei waren, sagte er zum Abschied: „Wir sehen uns dann am See!“ Aber sie lächelte nur gequält.
Die letzte Dame hieß Stefanie, war Heilpraktikerin und trug trotz winterlicher Temperaturen einen Aus­schnitt, der klar machte, was sie wollte. Eigentlich war sie ganz sympathisch, aber etwas überdreht. Das Leben ohne Partner schien ihr wirklich nicht zu bekommen. Wäre ein Schlafzimmer in der Nähe gewesen, hätte sie wahrscheinlich nicht viele Worte gemacht.
Schnell waren auch hier die sieben Minuten um und er machte sich daran das Formular auszufüllen. Viel­leicht hätte er Andrea wiedersehen wollen, aber die war gerade mit einem der männlichen Teilnehmer ab­gezogen. Also macht er nur ein Kreuz bei Anke und Stefanie, aber auch da war er sich eigentlich nicht sicher. Er gab das Formular bei der Organisatorin ab und machte sich auf den Heimweg. Für heute hatte er genug von ehegeschädigten Sächsinnen, Psychologinnen auf der Suche nach Studienobjekten und anderen Frauen.

Samstag, 2. Dezember 2017

Hypolimnion (english version)

The sea was calm on the English Channel, even though the weather was a little cloudy. The "Herald of Free Enterprise" slid calmly through the water while he sat in one of the passenger seats by the window looking out at the waves. Had he known that this ship would sink just a few days later off the Belgian coast, he would certainly have enjoyed the trip less. But he didn't know it and so he looked cheerfully into the clouds above the water and thought of what he would do the next days in London. He had an important appointment with a professor at London University College, for he was about to graduate from grammar school in Germany and wanted to study at London University College. Although the most important questions were settled, it was not yet clear whether he would be granted admission to a British university.
While he was hanging on to his thoughts, an elderly gentleman took the seat next to his's. At first he ignored him, but at some point the elderly gentleman began a conversation about the weather and the sea.
"Deep down the water it must be incredibly cold," the gentleman said and looked at him questioningly.
"No," he replied. "At a certain depth the water temperature is constant plus four degrees centigrade.
That's what he had learned in biology class. Biology was to become one of his A-level subjects, so he knew quite well what he was talking about.
The gentleman looked at him with surprise and asked: "But if, for example, a lake is frozen over?
"We distinguish three different layers of water," he began to explain. "In the lowest layer, the hypolimnion, the temperature is constant plus four degrees. In the uppermost layer, the epilimnion, the temperature varies according to the season. In summer it gets really warm, while in winter ice can form. In between lies the transition layer of the metalimnion. It is the transition from the temperature of the uppermost layer to plus four degrees in the lowermost layer.
"And how thick are these layers?" asked the gentleman.
"That depends above all on the depth of the water and on the sun's rays."
"You seem to know your way around," the Gentleman said. "Are you in water research?
Now he had to grin. Should he tell him that this would be the subject matter for his A-level examination?
"I happened to read something about it recently," he said.
The gentleman was impressed. They chatted about trifles for a while, then the gentleman continued his round through the ship.
He looked out at the sea again. He had visibly impressed the elderly gentleman with his knowledge. With a little luck he would be able to do the same with the A-level examiners. Then nothing would stand in the way of him studying in London.