Montag, 4. Dezember 2017

Der Ziegenhirte vom Unterengadin

Ein wenig unsicher stolperte er aus der Station der Bergbahn. Welchen Weg sollte er einschlagen? Er entschloss sich auf gleicher Höhe am Hang entlang bis zum nächsten Hügel zu gehen und dort die Wanderung mit einer Pause zu beginnen. Trotz der sommerlichen Hitze trug er Bergschuhe, einen Rucksack, einen Wanderstock und irgendeinen Seppelhut mit Gamsbart, von dem er nicht mehr wusste, wo er diesen überhaupt gefunden hatte. Zwar fand er, dass er damit etwas albern aussah, aber ohne Hut konnte man in dieser Höhe bei so starker Sonneneinstrahlung nicht unterwegs sein, ohne einen heftigen Sonnenbrand zu riskieren. Und irgendwie passte der Hut in diese Gegend.
Schnell hatte er den Hügel erreicht. Vor ihm lag das Unterengadin unter der heißen Sommersonne. Er hatte sich bis jetzt kaum angestrengt, aber selbst in dieser Höhe spürte er die Hitze. Leider gab es so hoch oben über der Baumgrenze kaum Schatten. Also setzte er sich auf einen Stein mitten in einer Almwiese, auf der eine Ziegenherde graste. Neugierig umringten ihn die Ziegen und beschnüffelten ihn von allen Seiten. Aber schon nach wenigen Minuten wendeten sie sich wieder dem Alpengras zu. Der Hirte war nirgends zu sehen, aber sein Hund wachte eifrig über die Ziegen. Sobald sich ein Tier zu weit von den anderen entfernte, lief er hinüber und trieb es zur Herde zurück. Als er schließlich sah, dass alle Tiere beieinander waren, setzte sich der Hund wenige Meter von dem Wanderer entfernt hin, jedoch ohne die Herde aus den Augen zu lassen.
Der Wanderer kramte eine Trinkflasche aus seinem Rucksack und nahm einen tiefen Schluck. Zufrieden schaute er über die grünen Weiden hinunter ins Tal. Er hatte jedoch noch nicht lange dort gesessen, als sich aus einer Mulde eine kleine Gruppe Spaziergänger näherte. Sie trugen normale Straßenkleidung. Niemand hatte einen Rucksack oder einen Wanderstock bei sich. Offenbar waren sie auf dem Weg zurück zur Seilbahnstation. Zwei ältere Damen in mittellangen Röcken, Turnschuhen und Baseballkappen lösten sich aus der Gruppe und kamen fast genau auf ihn zu. Zunächst beachtete er sie nicht weiter, aber bald schon hörte er ihre Stimmen. Es waren amerikanische Touristinnen.
„Look dear, isn’t that beautiful!“, hörte er eine der Frauen ausrufen, begleitet von andauerndem Klicken zweier Fotoapparate. „A genuine swiss goatherd, how marvellous!“
Und wieder klickten die Fotoapparate. Irritiert drehte er sich um. Was zum Teufel wollten diese Frauen von ihm? Er hatte jedoch keine Gelegenheit sie zu fragen, denn so schnell wie sie gekommen waren, so schnell verschwanden sie hinter der nächsten Senke. Verwirrt blieb er zurück. Er schaute auf den Hund, der nur wenige Meter von ihm entfernt lag. Dann blickte er auf die Ziegen, die sich halbkreisförmig um ihn gruppiert hatten. Diese seltsamen Frauen glaubten doch tatsächlich, dass er der Ziegenhirte sei! Gerne hätte er sie über den wahren Sachverhalt aufgeklärt, dass er nur ein Wanderer war, der zufällig hier eine Pause eingelegt hatte. Dass er nichteinmal Schweizer war, sondern aus dem Rheinland stammte. Aber es war zu spät. Die Frauen waren schon außer Sichtweite. Nachdenklich packte er seine Sachen zusammen, legte den Rucksack wieder an und warf einen letzten Blick auf die Ziegenherde und den Hund. Dann verließ er diesen Ort in der sicheren Gewissheit, dass es irgendwo in Amerika ein Fotoalbum geben würde, in dem ein Bild von ihm als Ziegenhirte zu sehen war.

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