Ein wenig unsicher stolperte er aus der
Station der Bergbahn. Welchen Weg sollte er einschlagen? Er
entschloss sich auf gleicher Höhe am Hang entlang bis zum nächsten
Hügel zu gehen und dort die Wanderung mit einer Pause zu beginnen.
Trotz der sommerlichen Hitze trug er Bergschuhe, einen Rucksack,
einen Wanderstock und irgendeinen Seppelhut mit Gamsbart, von dem er
nicht mehr wusste, wo er diesen überhaupt gefunden hatte. Zwar fand
er, dass er damit etwas albern aussah, aber ohne Hut konnte man in
dieser Höhe bei so starker Sonneneinstrahlung nicht unterwegs sein,
ohne einen heftigen Sonnenbrand zu riskieren. Und irgendwie passte
der Hut in diese Gegend.
Schnell hatte er den Hügel erreicht.
Vor ihm lag das Unterengadin unter der heißen Sommersonne. Er hatte
sich bis jetzt kaum angestrengt, aber selbst in dieser Höhe spürte
er die Hitze. Leider gab es so hoch oben über der Baumgrenze kaum
Schatten. Also setzte er sich auf einen Stein mitten in einer
Almwiese, auf der eine Ziegenherde graste. Neugierig umringten ihn
die Ziegen und beschnüffelten ihn von allen Seiten. Aber schon nach
wenigen Minuten wendeten sie sich wieder dem Alpengras zu. Der Hirte
war nirgends zu sehen, aber sein Hund wachte eifrig über die Ziegen.
Sobald sich ein Tier zu weit von den anderen entfernte, lief er
hinüber und trieb es zur Herde zurück. Als er schließlich sah,
dass alle Tiere beieinander waren, setzte sich der Hund wenige Meter
von dem Wanderer entfernt hin, jedoch ohne die Herde aus den Augen zu
lassen.
Der Wanderer kramte eine Trinkflasche
aus seinem Rucksack und nahm einen tiefen Schluck. Zufrieden schaute
er über die grünen Weiden hinunter ins Tal. Er hatte jedoch noch
nicht lange dort gesessen, als sich aus einer Mulde eine kleine
Gruppe Spaziergänger näherte. Sie trugen normale Straßenkleidung.
Niemand hatte einen Rucksack oder einen Wanderstock bei sich.
Offenbar waren sie auf dem Weg zurück zur Seilbahnstation. Zwei
ältere Damen in mittellangen Röcken, Turnschuhen und Baseballkappen
lösten sich aus der Gruppe und kamen fast genau auf ihn zu. Zunächst
beachtete er sie nicht weiter, aber bald schon hörte er ihre
Stimmen. Es waren amerikanische Touristinnen.
„Look dear, isn’t that beautiful!“,
hörte er eine der Frauen ausrufen, begleitet von andauerndem Klicken
zweier Fotoapparate. „A genuine swiss goatherd,
how marvellous!“
Und wieder klickten die Fotoapparate.
Irritiert drehte er sich um. Was zum Teufel wollten diese Frauen von
ihm? Er hatte jedoch keine Gelegenheit sie zu fragen, denn so schnell
wie sie gekommen waren, so schnell verschwanden sie hinter der
nächsten Senke. Verwirrt blieb er zurück. Er schaute auf den Hund,
der nur wenige Meter von ihm entfernt lag. Dann blickte er auf die
Ziegen, die sich halbkreisförmig um ihn gruppiert hatten. Diese
seltsamen Frauen glaubten doch tatsächlich, dass er der Ziegenhirte
sei! Gerne hätte er sie über den wahren Sachverhalt aufgeklärt,
dass er nur ein Wanderer war, der zufällig hier eine Pause eingelegt
hatte. Dass er nichteinmal Schweizer war, sondern aus dem Rheinland
stammte. Aber es war zu spät. Die Frauen waren schon außer
Sichtweite. Nachdenklich packte er seine Sachen zusammen, legte den
Rucksack wieder an und warf einen letzten Blick auf die Ziegenherde
und den Hund. Dann verließ er diesen Ort in der sicheren Gewissheit,
dass es irgendwo in Amerika ein Fotoalbum geben würde, in dem ein
Bild von ihm als Ziegenhirte zu sehen war.
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