Genervt legte er die Zeitung beiseite.
Was für ein Rummel um diesen Bären, der von Italien kommend in den
Graubündner Bergen aufgetaucht sein soll. Als wenn das so aufregend
wäre. Es hatte schließlich früher überall in Europa Bären
gegeben, bis sie irgendwann im Mittelalter ausgerottet wurden. Aber
der Presserummel war schon lästig. Da sorgten sich die Viehbesitzer
um ihre Tiere, Wanderer um ihre Sicherheit und die Einheimischen um
das Geld der Touristen. Dabei war noch gar nicht sicher, ob wirklich
ein Bär von Italien herübergewandert war. Die Spuren konnten auch
von einem anderen Tier stammen, hatte irgendein Förster im Fernsehen
gesagt. Immerhin hat bisher noch keiner verlangt den Bären zu
erschießen, so, wie damals in Bayern.
Er packte seine Sachen zusammen und
verstaute seine Brille sorgfältig im Etui. Dann setzte er seine
Wanderung fort. Das Tal war an dieser Stelle ungewöhnlich breit.
Bald war er sich nicht mehr sicher, ob er auf dem richtigen Weg war.
Er wollte einen Blick auf die Wanderkarte werfen, aber er fand seine
Brille nicht. Verdammt! Er hatte sie doch eingesteckt? Vielleicht lag
sie noch an dem Platz, wo er vor fast einer halben Stunde Rast
gemacht hatte. Es half nichts: Er musste den Weg wieder zurück
gehen.
Er war noch nicht lange unterwegs, als
ihm plötzlich Zweifel kamen. War das überhaupt der richtige Weg? Er
konnte zwar auch ohne Brille noch ganz gut sehen, aber offenbar gab
es ein paar Dinge, die ihm ohne Sehhilfe entgingen. Während er noch
an der Wegkreuzung stand und überlegte, näherte sich ihm ein
seltsamer Wanderer. Ein Glück! Da war jemand, den er fragen konnte.
Der Wanderer schien trotz der großen Hitze einen Pelzmantel zu
tragen. Naja, vielleicht wollte er über den Gletscher gehen.
„Junger Mann, können sie mir
vielleicht helfen? Ich glaube, ich habe mich verirrt“, sagte er.
Aber der Fremde brummte nur irgendetwas
unverständliches und beachtete ihn gar nicht. Stattdessen bückte er
sich und ging auf allen Vieren weiter. Hatte er eventuell seine
Kontaktlinsen verloren? Er würde dem seltsamen Wanderer ja gerne
suchen helfen, aber ohne seine Brille war er doch wesentlich
hilfloser, als er gedacht hätte. Der Fremde ließ sich nicht
beirren. Dann richtet er sich direkt vor ihm auf. Offenbar hatte er
seine Kontaktlinsen gefunden.
„Also wirklich, junger Mann“,
setzte er an. „Ihr Verhalten ist absolut ungebührlich. Ich habe
sie ganz höflich um Hilfe gebeten und sie halten es nichtmal für
nötig mir eine verständliche Antwort zu geben. Stattdessen brummeln
sie irgendwas in ihren Bart. Sie sollten sich wirklich mal rasieren.“
Aber wieder brummte der Fremde nur
etwas unverständliches. Dann drehte er sich um und verschwand
blitzschnell im Unterholz.
Kopfschüttelnd ging er weiter.
Hoffentlich war das der richtige Weg. Bald gelangte er wieder an
seinen alten Rastplatz und dort lag doch tatsächlich das Brillenetui
auf dem Stein, wo sein Rucksack gestanden hatte. Er hatte das Etui
nicht in die Rucksacktasche hineingesteckt, sondern daneben, sodass
es auf dem Stein liegen geblieben war. Und dort lag ja auch die
Zeitung, die er eben noch gelesen hatte. Ein wenig erschöpft ließ
er sich auf seinem alten Platz nieder und setzte die Brille auf. Sein
Blick fiel auf den Zeitungsartikel über den Bären. Was für ein
Blödsinn! Wahrscheinlich war das wieder mal eine Presseente.
Vermutlich gab es gar keinen Bären in Graubünden. Nur irgend so
einen unhöflichen Typen im Pelzmantel der unverständliches Zeug
brummelte.
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